Wenn Freunde wissen, dass man näht, kommt man hin und wieder zu überraschenden Geschenken – beispielsweise einem Überraschungstütchen aus einem Berliner (Hipster-)Laden für Selbstgemachtes und Selbermacher. Oder einem Modeheft mit Schnittmustern aus der Sowjetunion von 1970.
Das hat Katrin bei ihrem letzten Besuch in Kiew in einem Vintage-Laden entdeckt und im Zuge eines Spargelessens nach Dortmund mitgebracht. Nun ist „Rigas Modes“ für mich zunächst ein Bilderbuch, da die Texte darin auf Russisch sind. Und der erste optische Eindruck ist mindestens so überraschend wie das Geschenk selbst: Es ist keineswegs alles Kittelschürzen-Mode à la Babuschka, sondern einige der Schnittmuster könnte man heute ohne Weiteres verwenden. Zum Beispiel das für den Mantel mit halbrunden Teilungsnähten.
Weitere interessante Feststellungen beim Durchblättern und Entziffern:
- Auch in der Sowjetunion hatten Stoffballen offenbar eine Standardbreite von 1,40 m
- für welche Größe die Schnittmuster und der Stoffverbrauch angegeben sind, variiert (nach nicht ersichtlichen Kriterien): Während die Skizzen alle schlanke junge Frauen zeigen, beziehen sich die Angaben für den lila Mantel auf eine (russische) Größe 52, was immerhin einer europäischen Größe 46 entspricht, das A-Linien-Kleid hingegen ist in (russischer) Größe 46 (also Gr. 40 hierzulande) angegeben.
- man bräuchte viel Geduld, um die Schnittmuster anhand der angegebenen Maße zu übertragen und einige Erfahrung, um sie auch auf andere Größen anzupassen.
Nählatein für Fortgeschrittene
Aber wäre es nicht auch interessant zu wissen, was die Begleittexte zu den Schnitten besagen? Zum Glück kann die Quelle des Geschenks auch hier aushelfen und war so nett eine Übersetzung der ersten Seite zu organisieren. Dort lernen wir, wie praktisch es für 20-jährige Studentinnen ist, wenn sie aus wenigen Kleidungsstücken sieben verschiedene Outfits kreieren können:
Dafür muss man nur zwei Kleidungssätze besitzen: erstens – einen schräg-karierten Rock und eine Weste, und zweitens – einen weißen Faltenrock und eine ärmellöse Tunika, sowie als Ergänzung dazu einen feinen z. B. schwarzen, blauen oder braunen Pullover, zwei Blusen, kariert und einfarbig, am besten in Weiß, einen langen Seidenschal, ein gemustertes Tuch (als Halstuch) und einen einfarbigen Wollschal für die Herbsttage.
Es folgen einige Hinweise zu nützlichen Accessoires, mit denen man das Ganze „pimpen“ könnte und dann eine Beschreibung der Arbeitsschritte: Hals- und Armausschnitte der Weste mit Besätzen versäubern, […], Falte in die Tasche bügeln, eine Blende anstürzen und auf der Tasche absteppen, für die Bluse eine Falte in die Passe der Vorderseite legen und absteppen…
Unmittelbare Erkenntnis: Wie verwöhnt ich doch von unseren heutigen Schnittmuster-Anleitungen bin! Wo jeder entscheidende Schritt in E-Books bebildert wird und die häufig auch als YouTube-Tutorials zur Verfügung gestellt werden. Dieses Heft richtet sich wohl nicht an Anfänger!
Wenn ich aber doch einmal übermütig werden sollte, würde ich mir die Seite 12 übersetzen lassen und den Mantel mit der verdeckten Knopfleiste nähen. Direkt nachdem ich gelernt habe, wie man Schnittmuster gradiert.
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